Grusswort der Ortsgeschichtlichen Kommission (OGK)
des Quartiervereins Aussersihl-Hard
Wir feiern 20 Jahre Art Dock – aber auch das 20. Jubiläum eines Untoten. Wie wir aus der Mythologie wissen: Untote können ihr Unwesen unter den Lebenden nur dank eines Magiers oder Zampanos treiben.
Der Güterbahnhof ist eine seltene Perle der Ingenieurkunst des 19.Jahrhunderts, jede Stadt in Europa würde sich die Finger schlecken wenn sie eine solche industriehistorische Trouvaille ihr eigen nennen dürfte. Diese Perle wurde mit dem monströsen Polizei- und Justiz-Palast dem Tod geweiht. Noch aber behauptet sich ein letzter Rest, „Genug jetzt“ steht in Leuchtschrift an seiner Fassade, bis hierher, ab da wird kein Stein mehr abgerissen. Auch wenn das graue Büromonster hinter uns seine Schatten wirft – der Güterbahnhof treibt sein Wesen als Untoter unverdrossen weiter, dank seinem Zampano, Ralph Bänziger. Für unsere Website, damals im Abstimmungskampf gegen das PJZ, hat er – in Anbetracht dass keine Umlaute verwendet werden können – den treffenden Namen vorgeschlagen: www.guterbahnhof.ch
Ralph ist aber nicht der erste, der im Guten Bahnhof Kultur leben lässt. Noch lange vor dem Bahnhofstod, in seinen besten Zeiten, als hier noch alles Gute, alle Güter von und nach Zürich ein- und aus- und umgeladen wurden, von den Güterwagen auf Fuhrwerke, später auf knatternde Saurerlastwagen und von hier aus die Hohlstrasse hinauf in die Stadt und von dort zurück gekarrt wurden, vorbei an der Schönau, wo halbtrunkene Taglöhner fürs Auf- und Abladen angeheuert wurden – in diesen Zeiten, als das Leben noch analog stattfand, da hat ein heute vergessener, in den 1940-er Jahren aber bekannter und sogar preisgekrönter Schriftsteller am Stehpult mitten im lärmigen und staubigen Treiben des Güterumschlags seine Romane geschrieben: Joseph Saladin (1901-1985). Während 30 Jahren hat er auf der andern Seite des Hardplatzes, an der Eichbühlstrasse gewohnt und ist jeden Morgen in aller Frühe hierhergekommen, hat sich den blauen Bähnler-Schurz übergestülpt und sein Pflichtenheft erfüllt: Verlorene Stückgüter in den Weiten der Güterbahnhofshallen suchen und die entsprechenden Listen abarbeiten. Wenn nichts verloren gemeldet wurde oder Saladin schon alles gefunden hatte, konnte er unter den Stückgutlisten sein Manuskript hervorziehen und an seinen Romanen weiterschreiben: Über Aussenseiter, Ausgestossene, Aufmüpfige, über die Menschen von Aussersihl. Einige seiner Romantitel: „Das kleine verlorene Glück“, „Engelstrasse 67“, „Der Verschollene“ oder einfach: „Leben“.
Das passt zum Leben, das Ralph im letzten Rest des Guten Bahnhofs weiter leben lässt, zum Beispiel in der Ausstellung „Wahnwelten“. Damals, in den 1940-er Jahren, haben die SBB entdeckt, dass in ihrem Guten Bahnhof ein Schriftsteller arbeitet, in Lohnklasse 2, aber immerhin: Sie haben ihn schreiben lassen, quasi ein Güterschuppenarbeiter-Stipendium. Bei Ralphs Kulturarbeit sieht es anders aus: Da versuchen Behörden den Zampano mit einer lächerlichen Hintertreppe zu vertreiben. Der letzte Gute-Bahnhofsrest soll einer Treppe weichen, damit die Bürolisten 30 Sekunden schneller von der Hardbrücke runter zum Kaffeautomaten im PJZ kommen.
Mit Art Dock hat Ralph im einst so langweilige Hardquartier – typisch: alle Romane Saladins spielen drüben, ennet der Seebahngleise im Aussersihl – einen international beachteten Kunstort geschaffen wo Zürcher Künstlerinnen und Künstler weit besser – oder: überhaupt! – gewürdigt werden als im Millionentempel am Zürichberg. Und der Kulturort steckt an: Soeben ist nebenan das Galotti, eine spannende Musikwerkstatt eröffnet worden, vor zwei Jahren ist das Maxim-Theater in der Ernastrasse eingezogen. Der Kulturcluster Hard ist am wachsen.
Es wird der Zeitpunkt kommen, vielleicht im 40. Jubiläumsjahr, da wird nicht mehr zum Hard-Platz sondern zum Art-Dock-Platz eingeladen. Drum schon jetzt: Ein Hoch auf Art Dock!
Hannes Lindenmeyer, Vorsitzender der Ortsgeschichtlichen Kommission.