Rede von Corinne Mauch zur Buchvernissage Aussersihl Bewegt

Vernissage Quartiergeschichte «Aussersihl bewegt» von Hannes Lindenmeyer
Sonntag, 5. September 2021. Kanzleiturnhalle Zürich
Rede Stadtpräsidentin Corine Mauch
(Transkription aus dem Dialekt)

Liebe Aussersihlerinnen
Liebe Aussersihler
Lieber Franco Taiana
Lieber Hannes Lindenmeyer

Wer Eltern fragt, welches ihrer Kinder ihnen am liebsten sei, wird auf der ganzen Welt die gleiche Antwort bekommen: Uns sind alle gleich lieb. Und so ist es auch mit den Zürcher Stadtquartieren: Für mich als Stadtpräsidentin gehören alle Quartiere gleichwertig zur Stadt. Ich möchte keines missen. Jedes Quartier hat seinen Charakter, hat wunderbare Orte und jedes Quartier hat auch seinen Unort.

Aber was macht nun Aussersihl aus?
Als ich als junge ETH-Studentin im Februar 1984 aus dem Aargau nach Zürich gezügelt habe, bin ich in Aussersihl, an der Hardstrasse, gelandet. Zürich, das ist für mich damals vor allem Aussersihl gewesen und dazu noch etwas ETH. In der jüngeren Geschichte unserer Stadt und in unserem Stadtleben, wie wir es kennen und schätzen, nimmt Aussersihl eine Sonderstellung ein. Allein schon, weil Zürich ohne Aussersihl nicht zur Nummer eins unter den Schweizer Städten geworden wäre.

Die Stadtvereinigung von 1893 ist nicht einfach eine Eingemeindung von elf Aussengemeinden gewesen, sondern in erster Linie der Zusammenschluss der historischen Stadt mit der Arbeitervorstadt Aussersihl. Verschiedene Welten, verschiedene Kulturen und unterschiedliche Mentalitäten sind damals auf einander getroffen. Diese Verschmelzung hat Zürich erst zur Grossstadt gemacht.

Die Quartiermonografie von Hannes Lindenmeyer beleuchtet die Geschichte Aussersihls und damit die Geschichte unserer Stadt mit scharfem Blick – und mit viel Sympathie. Das Buch «Aussersihl bewegt» zeigt verschiedenste Seiten der ehemaligen Arbeitervorstadt und des heutigen Kreis 4 anschaulich und spannend auf. Ich danke Hannes Lindenmeyer und dem Rotpunktverlag für dieses wertvolle Buch. In diesen Dank schliesse ich alle ein, die am Buch mitgewirkt haben und es finanziell mittragen.

Auf drei Punkte in der neueren Zürcher Stadtgeschichte möchte ich kurz eingehen, die von den Entwicklungen in Aussersihl geprägt sind.
– Die Gründe für die Stadtvereinigung von 1893,
– die Rolle Aussersihls für die Zuwanderung und die Bedeutung der Migrant*innen für Zürich,
– die Rolle Aussersihls für das heutige Stadtleben.

Der Anstoss zur Stadtvereinigung ist aus Aussersihl gekommen, weil die Finanzen der stark gewachsenen Vorstadt aus dem Lot geraten sind. Deshalb hat der ehemalige Aussersihler Lehrer und Verleger Benjamin Fritschi – nach ihm sind die Fritschi-Wiese und die Fritschi-Strasse benannt – 1890 eine Petition lanciert, die die „Total-Zentralisation“ von Zürich und den Aussengemeinden sowie eine zinsfreie Anleihe für Aussersihl verlangt hat. Die Petition hat im Kanton Zürich Interessengegensätze ans Licht gebracht, die uns auch heute noch beschäftigen. „Auf dem Land“ ist ein starkes Misstrauen gegen die entstehende Grossstadt Zürich offensichtlich gewesen. Unterstützt worden ist diese Stimmung durch weitere Forderungen aus Aussersihl, das neben der Entschuldung und dem Zusammenschluss auch eine Einkommenssteuer und die Verlängerung der Schulpflicht auf acht Jahre auf die politische Agenda gesetzt hat.

Doch warum hat die Arbeitervorstadt eine längere Schulpflicht gefordert und warum hat sich das Land dagegen gewehrt? Damit die Aussersihler Kinder zwischen Austritt aus der Volksschule und Eintritt in die Fabrik oder in eine Lehre nicht herumgelungert sind! Die Bauern auf dem Land haben es genau umgekehrt gesehen. Sie haben die Kinder möglichst schnell von der Schule weghaben wollen, um sie im Stall und auf dem Feld arbeiten zu lassen. Häufig nur, um selber noch einer Nebenbeschäftigung nachzugehen, die notwendig gewesen ist, um die oft stark verschuldeten und verarmten Kleinbauernfamilien notdürftig über die Runden zu bringen.

Und warum hat sich Aussersihl für eine Einkommenssteuer stark gemacht? Im Kanton Zürich hat man damals nur eine Vermögenssteuer gekannt – aber keine Einkommenssteuern. Die Arbeiterfamilien und die Gewerbler in Aussersihl haben zwar Einkommen gehabt – aber Vermögen hat niemand ansparen können. Darum hat der Gemeinde Aussersihl das Geld für ihre Aufgaben gefehlt. Und darum ist Aussersihl finanziell in Schieflage geraten.

Drei Jahre und drei Vernehmlassungsrunden nach Einreichung der Aussersihler Petition hat der Kantonsrat dem Stimmvolk dann drei inhaltlich abgestimmte, jedoch getrennte Vorlagen unterbreitet:
– Ein «Verfassungsgesetz betreffend besondere Bestimmung für Gemeinden mit mehr als 10‘000 Einwohnern»,
– das «Gesetz betreffend Zuteilung der Gemeinden Aussersihl, Enge, Fluntern, Hirslanden, Hottingen, Oberstrass, Riesbach, Unterstrass, Wiedikon, Wipkingen und Wollishofen an die Stadt Zürich und die Gemeindesteuern der Städte Zürich und Winterthur» und
– separat einen Artikel aus dem Zuteilungsgesetz, der die Verlängerung der Schulpflicht für Neu-Zürich um zwei Jahre beinhaltet hat.

Das Resultat ist eindeutig gewesen: Die beiden Gesetze sind deutlich gutgeheissen worden, die Verlängerung der Schulpflicht aber ebenso deutlich abgelehnt worden. Von den Aussengemeinden haben nur Wollishofen deutlich und die Enge sehr knapp gegen die Eingemeindung gestimmt.

Nun zum Thema Zuwanderung:
Vorneweg, ich meine damit nicht nur die Zuwanderung von Ausländer*innen. Ich bin 1984 auch eine Zuwanderin gewesen, einfach aus dem Kanton Aargau. Und ja: Ich sehe die Zuwanderung in erster Linie als ein Kompliment an unsere Stadt. Diese Stadt bietet Chancen auf ein besseres Leben, gute Jobs und gute Bildungsmöglichkeiten.
Aussersihl ist bis auf den heutigen Tag der Ort, wo sich Migrant*innen – solche mit und solche ohne Schweizer Pass – wohl fühlen, wo sie eine Startchance sehen und wo sie auf Landsleute treffen und eine Community bilden können. Früher sind es die Italiener und die Italienerinnen gewesen, dann Jüdinnen und Juden, die vor den Pogromen in Osteuropa geflüchtet sind und im «Stedtl» an der Sihl einen sicheren Ort zum Leben gefunden haben. Heute stellen die Deutschen die grösste Gruppe unter den Aussersihler*innen ohne Schweizer Pass.

Ich könnte hier noch lange erzählen, so vielfältig ist Aussersihl. Ich mache es aber kurz und empfehle das Kapitel «Quartierwelt – Weltquartier» zu lesen. Hannes Lindenmeyer beschreibt den Mikrokosmos Aussersihl wunderbar, ab Seite 41.

Zum Schluss noch zwei, drei Gedanken zur Rolle Aussersihls für das Stadtleben von heute.

Zürich gilt seit den 00er Jahren als Party-Stadt, als Stadt der Raves. Das Veranstaltungsangebot ist von einer beeindruckenden Breite, und auch das Filmangebot und die Qualität der Zürcher Gastronomie werden sehr geschätzt.

Als ich nach Zürich gekommen bin, ist vieles davon im Entstehen gewesen – in Aussersihl. Auf dem Kanzlei-Areal hat sich das «Xenix» nach einer langen Wanderschaft, niedergelassen – und viel zum Aufleben der Filmstadt beigetragen.

Oder ein anderes Beispiel: 1983 sind in der Schweiz private Radiostationen zugelassen worden. Radiopiraten wie Roger Schawinski oder Radio Banana aus dem Umfeld der 80er Bewegung sind damals längstens auf Sendung gewesen – aus WG-Estrichen in Aussersihl, resp. aus dem Radio 24-Studio in Italien.

Als ich 1984 nach Zürich gekommen bin, hiess es in den Beizen um Mitternacht noch «letzte Runde» und dann austrinken. Um halb eins ist dann aufgestuhlt worden. Wer noch hat weitermachen wollen, der hat keine grosse Auswahl gehabt. Ausser in Aussersihl, legal in der «Helvti» oder illegal in einer der ziemlich verrauchten Kellerbars in irgendeinem Hinterhof an der Langstrasse.

Aussersihl, das ist der Platz, an dem so vieles entstanden ist, was wir heute in Zürich als völlig normal anschauen. Zum Beispiel die lebendige Bar- und Beizen-Szene unserer Stadt. Sie hat in Aussersihl ihren Anfang genommen.

Ich könnte noch vieles aufzählen, zum Beispiel von der Gruppe «Luft und Lärm», die als erste Zürcher Umweltaktion bezeichnet werden kann. Oder die frühen kommunalen Wohnsiedlungen wie der Erismannhof oder die ersten Bauten der Genossenschaften – die bis heute das Stadtbild im Sihlfeld dominieren und die den genossenschaftlichen Wohnungsbau in Zürich angestossen haben, der dann vor allem in den 1934 eingemeindeten Quartieren in Zürich Nord oder Zürich West ganze Stadtquartiere mit günstigen Wohnungen hat entstehen lassen. Heute leben in Zürich über 120’000 Menschen in einer städtischen oder in einer Genossenschaftswohnung. Auch hier ist Aussersihl am Anfang gestanden.

Lieber Aussersihlerinnen und Aussersihler, es ist vieles angestossen worden in Ihrem Quartier, das für die ganze Stadt von grösster Bedeutung ist. Hannes Lindenmeyers Buch erzählt davon. Ich freue mich, wenn Aussersihl diese Rolle als Labor, als Inkubator und Brutkasten für die ganze Stadt weiter ausfüllt. Ich danke allen, die dazu einen Beitrag leisten.
(Es gilt das gesprochene Wort.)

Link zum Download der Rede:

Rede Corinne Mauch zur Vernissage Aussersihl Bewegt

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